J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

Dezember 2021

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Eines Tages waren Euridice und Orpheus ihrer gemeinsamen Rollen und Legenden überdrüssig. Sie beschlossen zu verreisen. Orpheus packte sich einen großen Sack, Euridice einen kleinen Rucksack. Gemeinsam verließen sie das Haus, aber am Ortsausgang von Pieria verstritten sie sich. Orpheus wollte Richtung Olymp marschieren, den Sitz der Götter erkunden, ihnen vorsingen; Euridice hatte andere Wünsche: das Meer, die Inseln, die Welt jenseits der Berge? Sie trennten sich. Orpheus stapfte mit Lyra und Sack davon: Die Götter werden staunen, rief er. Ich werde ihr Sänger Number One.

Euridice ging zum Strand und ließ sich von einem der Boote nach Thessaloniki mitnehmen. Soweit weg war sie noch nie von Pieria gewesen. Für Sekunden kam sie sich so verloren vor, dass sie in ein schwarzes Loch fiel, so wie es in den Schriften stand und von den Göttinnen beschworen wurde. Als der Kutterboden nicht mehr unter ihr schwankte, die Sonne wieder schien und die Möwen vorschriftsmäßig silbern über das Wasser segelten, sah Euridice die Welt mit anderen Augen.

In Thessaloniki bestaunte Euridice den Hafen, die vielen Menschen, die Strandpromenaden und den Bahnhof. Sie lief die Bahnsteige auf und ab. Sie bestieg den Orientexpress. Wenigstens bis Athen wollte sie fahren. Ein wunderschönes Abteil wurde ihr zugewiesen. Sie war glücklich. Ein Zugbegleiter brachte ihr einen Überseekoffer mit Mantel, Hosenanzug, Jacken und Jeans, Schal und Mütze, Kleidern, zwei Paar Schuhen.

Ich habe keine Drachmen und keine Ware, sagte Euridice.

Alles im Service inbegriffen, antwortete der Zugbegleiter. Ich hole Sie in einer halben Stunde zum Mittagessen ab. Er deutete eine leichte Verbeugung an und ging. Euridice zog sich um. Der Zug fuhr ab nach Rufen, mächtigem Pfeifen der Lok und kurzen hellen Pfiffen des Stationsvorstehers.

Die Gesellschaft im Speisewagen war bunt gemischt: Türkinnen, Griechen, Paare, Geschäftsreisende, Händlerinnen. Euridice saß an einem fein gedeckten Tisch mit einer Bäuerin aus der italienischen Provinz Parma. Sie hatte für ihren Schinken in Thessaloniki geworben und war auf der Heimreise. Sie schwärmte von der Emilia-Romagna und ihrer Stadt – Fidenza. Die beiden Frauen aßen voller Vergnügen. Muscheln überbacken, marinierten Tintenfisch, große gefüllte Oliven und Weinblätter, Humus, eine Scheibe von der Lammkeule mit Minze. Ein Orangenparfait, ein Semifreddo. Die Bäuerin ließ Euridice von ihrem Schinken kosten.

Während die beiden Frauen aßen und tranken, hielt der Zug in Athen und nahm danach die lange Fahrt auf quer durch Griechenland bis an die Adria, entlang dem Mittelmeer bis nach Triest. Euridice saß in ihrem Abteil und staunte über die Schönheit und Größe der Welt, dann bat sie ihren Zugbegleiter um Papier und einen Stift. Er brachte ein Notizbuch und einen Füller. Euridice begann zu erzählen, was sie sah und was sie dachte, dass sie es gesehen hätte. Im Abteil vor ihr sang eine Frau. Maria Callas. Sie reiste von Griechenland nach Paris. Euridice fragte den Zugbegleiter, ob sie auch bis nach Frankreich mitfahren dürfte. Der Mann lächelte, verbeugte sich leicht: Gerne, Madame. Von Triest fahren wir nach Venedig, dort verlässt uns Signora Laura Polizzi. Die Frau mit dem köstlichen Schinken. Sie hat aber auch noch viele andere Aufgaben. Es sind schwierige Zeiten. Zu viele wollen die Welt und die Macht erobern. Der Schinken ist ihre Tarnung.

Der Zugbegleiter sagte auch noch: Wer weiß, ob ich der bin, für den Sie mich halten. Nach diesem Satz war er wieder der, der er für Euridice sein sollte: Nach Venedig kommen die Stationen Mailand, Turin, Lyon und dann Paris. Sie wissen vielleicht nicht, was es alles auf der Erde gibt, genauso wenig wie ich: aber es geschieht sehr viel gleichzeitig an Entwicklungen. Die Fahrt im Orient Express zeigt es uns. Überall arbeiten, denken und fühlen Menschen. Überall ist es anders schön. Und überall zetteln die Mächtigen Streitereien an.

Der Zugbegleiter richtete sich auf: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“ Aber soweit sind wir in der Geschichte der Menschheit noch nicht. Oder war es immer so? Ist es immer so?

Euridice blieb ratlos zurück, dann schrieb sie in ihr Notizbuch alles, was der Mann gesagt hatte. Im Speisewagen saßen nun Maria Callas und Euridice zusammen. Euridice lernte Noten lesen, Maria erfuhr alles über die Götter und Nymphen. In Paris kam Euridice bei Maria unter und lernte die Pariser Oper kennen.

Ich werde das letzte Mal an einer Oper singen. Die Norma. Die schwerste aller Rollen. Euridice saß während der Aufführung in einer Ehrenloge für Göttinnen und Nymphen. Danach feierte sie mit Maria und ihren Gästen im Maxim’s. Im Morgengrauen ging Euridice zurück zum Gare du Nord. Da stand der Orient Express, der rote Teppich mit den Goldstreifen war ausgerollt. Koffer wurden geschleppt und gefahren, die Reisenden stiegen ein. Euridices Zugbegleiter winkte: Du bist spät. Du musst mich ablösen. In Windeseile, aber ruhig erklärte er Euridice, was sie zu tun und zu lassen hatte, zeigte ihr die kleine Kabine, in der ihre Uniform hing und ihr Schrankkoffer stand. Die Strecke kennst du ja. Der Mann verbeugte sich leicht, übergab alle Schlüssel und ging davon. Euridice verwandelte sich und fuhr zurück nach Thessaloniki. Im Orient Express.

Was tue ich?

Schreiben. Ja. Aber langsamer. Die ‚Fluchtlinien‘ sind anstrengend zu schreiben. Die Struktur ist gebaut, die Dramaturgie stimmt und über hundert Seiten sind fertig.

Was wünsche ich mir?

Endlich wieder les Vacances in Frankreich, wo ich doch nun schon fast ein Jahr jeden Tag eine Stunde Französisch lerne, aber dank all der Unvernunft, die die Menschen herausschreien, der Dummheit, mit der sie handeln, werden wir weiter uns mit der Pandemie herumschlagen. Und nicht nur damit. Da Wirtschaft und ein undefinierter ‚Wohlstand‘ plus Party das wichtigste sind und der Markt keineswegs alles regelt, wird es wohl noch eine Weile weitergehen mit den pandemischen Aufgeregtheiten aller Art.

Und: Ich freue mich, dass die Nachtzüge – Gedichte und gefundene Zettel erschienen sind. Mit Fotografien von Iris und Rüdiger Nölle-Hornkamp. Danken möchte nicht nur für die vielen schönen und wichtigen Projekten mit Iris, sondern auch dem Geest Verlag, Inge Witzlau und Alfred Büngen.

Mal schauen, wie alles weitergeht -

Jay