J. Monika Walther
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August 2023

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Wir wissen nicht, ob Euridice und Orpheus besorgte griechische Bürger waren, die sich mit Nachbarn zusammentaten und schreiend durch die Straßen von Dion, gelegen im Norden von Griechenland, zogen und auf die Vernunft, die Gesetze, die Erde als Scheibe oder als Kugel schimpften. Vielleicht liefen sie mit einer römischen Fahne herum oder einem Abzeichen aus Spartakus. Oder ob die Beiden kurz vor Christus Geburt über die Doppelschlacht von Philippi jammerten, denn was ging es die Griechen an, dass die beiden Mörder des Cäsars ihre Kriege gegen Rom verloren und sich das Leben nahmen.

Zwei römische Armeen mit annährend gleicher Stärke standen sich bei Philippi gegenüber: Beide Seiten verfügten über hunderttausend Soldaten. Octavian und Marcus Antonius aber waren mit dreiunddreißigtausend Reitern im Vorteil. Trotz doppelt so hoher Verluste siegten Octavian und Marcus Antonius. Eine der vielen sinnlosen Kriege in der Geschichte der Menschen. Den römischen Göttern konnte es recht sein, dass ihre Macht gesichert wurde und niemand ins grübeln kam, warum ihnen Opfer gebracht wurden, warum Rom eine Weltherrschaft anstrebte. Was die griechischen Göttinnen über den Schlachtenlärm dachten, ob sie sich gar eingemischt hatten zugunsten der einen oder anderen Seite, wissen wir nicht. Vielleicht waren sie mit ihren eigenen Intrigen beschäftigt und hatten wie die Griechinnen selbst, kein Interesse, über andere Länder herzufallen und sie auszubeuten.

Euridice und Orpheus könnten aber auch zu der Mehrheit der vernünftigen Griechen gehört haben, die ihr Staatswesen für gut befanden, die sich für die Zukunft interessierten und die keine Angst davor hatten, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel war. Sie fürchteten sich vielleicht auch nicht davor, dass der Mittelpunkt der Welt nicht Griechenland war, dass es mehr Länder gab, als die Staaten und Ansiedlungen rund um das Mittelmeer, dass die Welt immer größer wurde und es sogar im fernen Norden Länder, Meere und Menschen geben sollte. Genaues wusste noch niemand.

Die Vernünftigen unter den Griechinnen hofften, dass die Römer nicht weiterhin ihre Kriege bei ihnen vor der Haustür austrugen, dass sie bei sich blieben und ihre Heimat vom Drang der Römer nach einem immer größeren Reich verschont blieb. Sollten sie nach Jerusalem oder Ägypten gehen und dort herrschen oder in den unbekannten Norden jenseits der Alpen. Die vernünftigen Griechen waren zufrieden mit ihrem demokratisch angelegten Staat. Nein, gerecht ging es noch lange nicht zu, aber es war ein erster Versuch, dass nicht einer über alle bestimmte und alles besaß.

In der Zeit um Christi Geburt gab es viele Veränderungen. Euridice und Orpheus mussten begreifen, dass sie nicht so unbeschwert leben konnten, wie viele der Menschen, weil sie beide die Last der höheren Aufgaben trugen, weil sie eine Legende waren, weil sie Verbindungen zu den Göttinnen hatten, weil Orpheus den Musen nahestand und so schön sang, weil Ovid so viel über ihn zu erzählen wusste, aber die wahre Wahrheit wusste niemand von der erfundenen Wahrheit und von all den Legenden zu unterscheiden. Ob Orpheus nun Frauen oder Männer liebte, ob er in seiner Heimat von Mänaden, berauschten Anhängerinnen des Dionysos, zerrissen wurde und sich als Schatten zu Euridice gesellte, ob diese nun den Gott der Unterwelt küsste und liebte und der Kopf des Orpheus immer weiter sang, bis er endlich beerdigt wurde. Menschen erfinden gerne Legenden, Geschichten und ihre ganz persönliche Wahrheit vom Weltenlauf. Es lebt sogar noch ein ehemaliger amerikanischer Präsident, der immer noch glaubt, dass er eine Wahl gewonnen hätte, die er verloren hatte. Und es gibt in Deutschland besonders viele Menschen, die davon überzeugt sind, dass die Erde eine Scheibe ist, weil ja das Wasser der Überschwemmungen nicht abläuft, und dass die ‚Deutschen‘ ein ganz altes Volk wären, sozusagen von Gott als ‚Arier‘ erschaffen und seit ewigen Zeiten in einem Nationalstaat vereinigt. Nicht erst seit 1872, gebildet aus kunterbunter und egoistischer Kleinstaaterei. Diese Geschichten werden erzählt, obwohl inzwischen der Buchdruck und das Internet erfunden wurde und die Wahrheit zu recherchieren und zu wissen ist. Aber in diesem doitschen Land wird die eigene und persönliche Meinung höher geschätzt als Fakten, die Wissenschaften, die Forschung. In manchen braunen Kreisen der besorgten Bürger gelten nur die eigenen Ansichten und Wahrnehmungen. Wenn es in Stadt Rhoda regnet und kühl ist, kann der Juli nicht der heißeste Monat seit der Wetteraufzeichnung gewesen sein. So einfach ist das. Und nicht wenige glauben immer noch, dass es ‚Rassen‘ gibt.

Zu Zeiten von Euridice und Orpheus konnte niemand wissen, dass es einmal mitten in Europa ein Land geben würde, einen jungen Nationalstaat (1872), dessen Kaiser noch nicht einmal im eigenen Land gekrönt worden war, sondern mitten unter seinen Feinden in Versailles. Ein Staat, der zwei Weltkriege begann – und verlor und der vor allen normalen Veränderungen Angst hatte, was nur schwer für andere zu verstehen war, denn Leben bedeutet ja ständige Veränderung. Und sei es, dass andere einen Krieg anfangen und ein Großreich aufbauen wollen oder das Klima sich verändert, weil die Menschen Raubbau auf der Erde betrieben haben, ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Land, in dem eines Tages sich die Politik, die Parteien um zwanzig Prozent besorgte und faschistische Bürgerinnen kümmern würden und nicht um die achtzig Prozent der Vernünftigen. Die Sorgen der Vernünftigen wurden nicht beachtet, ihre Fragen nicht beantwortet. Die Vernünftigen waren ja leise, pöbelten und schrien nicht, aber eines Tages begriffen sie, dass sie mehr waren als die Faschisten und Hetzerinnen, dass sie viel mehr waren, aber endlich aufhören müssten leise zu sein. Sie mussten mit aller Vernunft laut und deutlich werden und für die Demokratie einstehen gegen die Feinde der Freiheit. Eines Tages, das ist jetzt, hier und heute. In Deutschland. In der Bundesrepublik. Jetzt muss der Widerstand beginnen und organisiert werden. #wirsindmehr

Was tue ich?

Älter werden und staunen. Weiterschreiben. Mich freuen, dass sich für viele Nebenrechte meiner Bücher ein Verlag interessiert, dass ich sogar alle meine Erzählungen um Kommissar Simonsberg in einem Ebook veröffentlichen kann, dass ‚Das Gewicht der Seele‘ konvertiert wird. Dass Ende August mein Roman ‚Fluchtlinen – Wie die Welt sich in Innen und außen teilte‘ erscheinen wird. Das Umschlagbild ist von der Leipziger Malerin Madeleine Heublein. Und so hat eine Zusammenarbeit mit einem Verlag, die keine mehr war und wurde, zu dem Glück geführt, diese Malerin kennen zu lernen, die, wenn sie zu ihrem Atelier radelt, an der Idastraße 41 vorbeikommt, eine Frau, die eine ähnliche jüdische Familiengeschichte hat. Solche Wunder und Geschenke gibt es. Der Geburtsort Leipzig wurde auf wundersame Weise wieder ein Stück Heimat.

Was wünsche ich mir: Dasselbe wie das letzte Mal und das vorletzte Mal: Dass der Kampf gegen die Diktatoren, Autokraten und Faschisten gelingt. So viele tapfere Frauen und Männer wagen ihr Leben für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Mit Freiheit meine ich Grundrechte, nicht dieses egoistische Geschrei um Wohlstand und Unverstand.

Und: „Ohne Erinnerungen gibt es keine Zukunft. Ohne Geschichten und Ohrenzeugen keine Geschichte. Wie es gewesen sein könnte, wenn wir gehört und geredet und gehandelt, wenn wir unsere Geschichten erfunden hätten. Ich erzähle, was war und was sein könnte, wenn es geschähe. Ich kann sagen und denken, was ich will. Ich lebe hier. Mit meinem Kopf.

Ich bin viele Wege abgegangen, habe die Wahrheit in den Lügen und die Lügen in dem Erzählten gesucht, habe keine Mutter und keinen Vater aufgespürt. Ich bin auf mich gestellt. Ich habe mich erfunden. Liebe gefunden.“ Ein Zitat aus dem Roman ‚Fluchtlinien‘.

Jay